Und sie waren unsere Nachbarn
Über die Ausstellung
Vom 10. Dezember bis zum 27. Januar präsentiert die Stadt Bocholt die Ausstellung "Und sie waren unsere Nachbarn… - Deportation jüdischer Männer, Frauen und Kinder nach Riga 1941/1942" im LernWerk.
Die Ausstellung thematisiert die Deportation und das Schicksal jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Bocholt, die 1941 in das Rigaer Ghetto verschleppt wurden. Ein Schwerpunkt liegt auf den Ereignissen im Ghetto Riga, wo Tausende lettische Jüdinnen und Juden Opfer eines Massenmords wurden.
Hier setzt die Ausstellung "Zwei Tage im Winter - Zachor: erinnere dich!" des Bremer Künstlerehepaars Dagmar Calais und Chris Steinbrecher an, die ebenfalls Teil des Ausstellungsprogramms ist. Sie zeigt die Auswirkungen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik auf die jüdische Bevölkerung in Lettland sowie die jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus Bocholt.
Eröffnung im neuen Künstler-Appendix des LernWerks
Diese Ausstellung ist die erste im neuen Künstler-Appendix des LernWerks und wird über den "Heimat-Fonds" des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Volksbank Bocholt eG gefördert.
Die Stadt Bocholt realisiert die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Bocholter Kunst- und Kulturgemeinschaft e.V., dem Stadttheater Bocholt e.V., dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und Europe Direct Bocholt.
Der Eintritt zur Ausstellung und die Teilnahme an Führungen sind kostenfrei.
Wann ist die Ausstellung zu sehen?
Die Ausstellung kann an folgenden Tagen jeweils von 11-17 Uhr besucht werden:
- Freitag, 13. Dezember 2024
- Samstag, 14. Dezember 2024
- Sonntag, 15. Dezember 2024
- Freitag, 20. Dezember 2024
- Samstag, 21. Dezember 2024
- Freitag, 27. Dezember 2024
- Samstag, 28. Dezember 2024
- Sonntag, 29. Dezember 2024 (nur 14-17 Uhr geöffnet)
- Freitag, 3. Januar 2025
- Samstag, 4. Januar 2025
- Sonntag, 5. Januar 2025
- Freitag, 10. Januar 2025
- Samstag, 11. Januar 2025
- Sonntag, 12. Januar 2025
- Freitag, 17. Januar 2025
- Samstag, 18. Januar 2025
- Sonntag, 19. Januar 2025
- Freitag, 24. Januar 2025
- Samstag, 25. Januar 2025
- Sonntag, 26. Januar 2025
Begleitprogramm zur Ausstellung
Datum | Uhrzeit | Programmpunkt |
---|---|---|
12. Januar 2025 | ab 11 Uhr | Vortrag von Europe Direct Bocholt zur jüdischen Kultur in Europa im Appendix des LernWerks (Eintritt frei) |
17. Januar 2025 | ab 19 Uhr |
Konzert "A Liedele in Jiddisch" des Stadttheaters Bocholt e.V. im großen Veranstaltungssaal des LernWerks (Tickets für 25 Euro unter www.stadttheater-bocholt.de) |
27. Januar 2025 | ab 19 Uhr |
Musikalische Lesung aus dem Buch "Ich überlebte Rumbula" der Stadtbibliothek Bocholt im Appendix des LernWerks (Eintritt frei) |
Jüdisches Leben in Bocholt
Die früheste Erwähnung von jüdischem Leben in Bocholt stammt aus dem Jahr 1562. Seinerzeit erhielt ein jüdischer Medizinstudent das Wohnrecht für die Stadt Bocholt.
Im Jahre 1852 gründete sich der Synagogenbezirk Bocholt, der neben der Hauptgemeinde Bocholt auch die Juden aus Anholt, Dingden, Liedern, Rhede und Werth umfasste. Ein Jahr später waren 21 jüdische Familien in Bocholt gemeldet.
Im Jahr 1932 gab es in Bocholt u.a. 12 Fabrikanten, 35 Kaufleute, 17 Handwerker, darunter 7 Metzger, jüdischen Glaubens. Wie stark die wirtschaftliche Bedeutung der jüdischen Fabrikanten für die Wirtschaftskraft der Stadt Bocholt war, beweist eine Formulierung der Stadtverwaltung in einem Schreiben vom 17. Januar 1931 an den Regierungspräsidenten Münster über die Fortführung der Israeli-tischen Schule. Es wird darin darauf hingewiesen, dass die Steuerein-nahmen der Stadt besonders wegen der florierenden Firmen jüdischer Inhaber sehr hoch seien. Deshalb müsse auch die Schule weiterhin bestehen.
Josef Niebur,
Buch der Erinnerung. Juden in Bocholt.
1937 - 1945, Bocholt 2013, S. 61.
Im Jahr 1932 gehörten der Israelitischen Gemeinde Bocholt circa 220 Menschen an. Damit war sie nach Münster die zweitgrößte Gemeinde im Münsterland und repräsentierte knapp 1 Prozent der Bocholter Bevölkerung. Trotz ihrer verhältnismäßig geringen Anzahl zur Gesamtbevölkerung prägten Jüdinnen und Juden auch in Bocholt das gesellschaftliche Leben entscheidend mit.
Sie engagierten sich politisch, etablierten Vereine, ließen sich als Ärzte oder Gewerbetreibende nieder, gründeten Firmen und errichteten im Stadtgebiet eine eigene Synagoge, eine israelitische Schule sowie einen eigenen Friedhof. Selbstverständlich kämpften auch jüdische Gemeindemitglieder aus Bocholt im Ersten Weltkrieg für das deutsche Kaiserreich.
Die Lage nach dem Ersten Weltkrieg
Die jüdische Gemeinde Bocholt beklagte am Ende des Ersten Weltkrieges insgesamt elf Verluste unter ihren Mitgliedern.
Gottfried Albersheim, Erich Braunschweig, Fritz Gompertz, Paul Hochheimer, Paul Löwenstein, Julius Metzger, Dr. Erich Rosenberg, Otto Rosenberg, Gustav und Siegfried Sander aus Werth sowie Walter Wolff.
Mit der Verkündung der Weimarer Reichsverfassung im Jahr 1919 wurden Jüdinnen und Juden durch den Artikel 136 vollständig der übrigen Bevölkerung gleichgestellt. Alle Staatsämter sowie alle bürgerlichen Rechte sollten ihnen fortan uneingeschränkt zur Verfügung stehen.
Bei den ersten freien, geheimen und gleichen Kommunalwahlen am 3. März 1919 wurde in Bocholt Emil Cohen in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Zur Kommunalwahl 1924 traten Jeanette Wolff, Emil Cohen und Richard Friede an. Sie gehörten der israelitischen Gemeinde Bocholts an.
Die Jahre ab 1924 bis zur großen Weltwirtschaftskrise von 1929 gelten in der Rückschau als die "goldenen Jahre" der Weimarer Republik. In dieser Umgebung konnte auch das Judentum politisch, kulturell und religiös aufblühen. Vielfältige Vereine wie der 'Verein für jüdische Geschichte und Literatur', der Wanderbund 'Kameraden' und der 'Reichsbund jüdischer Frontsoldaten' gründeten sich im Anschluss an den Weltkrieg. Die Ortsgruppe Bocholt unter Leitung von Bertold Löwenstein nahm schon vor 1922 ihre Vereinsarbeit auf.
Antisemitismus in der Republik
So sehr sich Jüdinnen und Juden nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch die völlige gesetzliche und gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung wünschten, antisemitische Tendenzen verschwanden nie vollständig. Immer wieder kam es in der Republik zu Angriffen auf Jüdinnen und Juden.
Gelenkt wurden die antisemitischen Aktivitäten von "vaterländischen" Politikern, die mit den demokratischen Reformen der neu gegründeten Republik nichts anfangen konnten. Vielmehr hatten sie einen Teil ihrer Privilegien verloren und verschrieben sich nun dem Kampf gegen Republik und Demokratie. Dabei waren ihnen viele Mittel recht: Auch die Nutzung und Verbreitung antisemitischer Vorurteile. Im Jahr 1919 gründete sich z.B. der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund als größter von circa 100 deutschen und völkischen Zirkeln.
"Ihre Propaganda gab den Juden die Schuld an der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Forderungen des Versailler Vertrags. Dabei beriefen sich ihre Propagandisten auf eine angebliche "jüdische Weltverschwörung", die mit den "Protokollen der Weisen von Zion" bewiesen werden sollte. Dieses Pamphlet, das ins Deutsche übersetzt und in 100000 Exemplaren verbreitet wurde, war eine Fälschung des zaristischen russischen Geheimdienstes. Angeblich sollten nach dieser Schrift jüdische Weise die Ergreifung der Weltherrschaft durch die Juden geplant haben."
Prof. em. Dr. Arno Herzig
Informationen zur politischen Bildung, Jüdisches Leben in Deutschland, 2012, Ausgabe 307.
Um dem grassierenden Antisemitismus entgegenzuwirken und die Ausbreitung der "Zirkel" einzudämmen, wurde in den Jahren 1922/23 ein Republikschutzgesetz verabschiedet. Jedoch nutzen Parteien wie die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) die judenfeindliche Propaganda unter anderem für ihre Parteiprogramme. Der Anti-semitismus war auch ein fruchtbarer Nährboden für die Gründung der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) im Jahr 1920.
Das BBV warnte am 7. Dezember 1922 sogar unter der Überschrift "Der deutsche Faszismus" vor dem "falschen Propheten Dr. [sic.] Hitler, dem Führer der Nationalsozialisten.
Auszug aus: Hans-Walter Schmuhl, Bocholt im 20. Jahrhundert, S. 95.
Bei der Reichstagswahl 1924 kam die NSDAP in Bocholt auf 0,3 % der Stimmen und im Jahr 1928 sogar nur auf 0,2 Prozentpunkte. In Bocholt spielte die NSDAP in den 1920er Jahren demnach noch keine große Rolle.
Doch das änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929...
1929 bis 1933
Die Weltwirtschaftskrise führte gegen Ende der 1920er Jahre in eine große Massenarbeitslosigkeit. Große Teile der Bevölkerung gerieten in Folge dessen in Armut. Enttäuscht von der demokratischen Regierung der Weimarer Republik wendeten sie sich anderen Parteien zu. Gerade die NSDAP schaffte es in dieser Zeit, großflächig neue Wählerschichten anzusprechen, so auch in Bocholt.
"An der Gründung [der Ortsgruppe der NSDAP] waren Bocholter Fabrikanten, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise ihre Fabriken schließen mussten, Selbstständige, Beamte und Angestellte beteiligt."
Zitat: Buch der Erinnerung, S. 64: Privatbesitz Josef Niebur. Niederschrift über ein Gespräch mit Kurt Nussbaum
am 30. April 1985 in Bocholt.
Am 22. Juni 1930 kamen erstmalig SA-Leute und andere National-sozialisten aus dem Gau Emscher-Lippe zu einem ersten "Werbetag" nach Bocholt. Begleitet wurde dieser mit heftigen Gegendemonstrationen der Bocholter Bevölkerung. Unter den Demonstranten war z.B. auch Salomon Seif, Kultusbeamter der israelitischen Gemeinde Bocholt.
Durch die Polizeibehörde in Bocholt ist festgestellt worden, daß der Antragsteller [Salomon Seif] gegen die Nationalsozialisten eingestellt war. Bei dem großen Aufmarsch der NSDAP im Sommer 1930 war der Antragsteller einer der größten Hetzer. Er fuchtelte vor den Nationalsozialisten mit dem Stock herum und spuckte auch vor diesen aus. Durch dieses Gebaren [sic] machte er sich später in der nationalsozialistischen Bevölkerung Bocholts unbeliebt. Seif stand auch in dem Verdacht[,] daß er entstellte Bilder und Berichte des Reichskanzlers Hitler aus Zeitungen, die in Holland erscheinen, in Bocholt in Verkehr brachte.
Stadtarchiv Bocholt, Slg-Zeitungen, Bocholter Volksblatt,
23. Juni 1933, Propagandamarsch: Blatt 3, Bescheid des Feststellungsausschusses in Gelsenkirchen vom 7. Dezember 1933.
Knapp zwei Jahre nach diesem "Werbetag" war die NSDAP fest in Bocholt etabliert. Über ihre Existenz informierte die Bocholter Ortsgruppe ab 1932 immer wieder mit Wahlkampfanzeigen. Und das mit Erfolg: Bei der Reichstagswahl 1932 erlangte die NSDAP bereits 9,8 %.
Doch trotz der immer weiter wachsenden Stimmenanteile hatte es die NSDAP in Bocholt schwer. Laut dem Historiker Hans-Walter Schmuhl hätten die Nationalsozialisten die Macht innerhalb Stadt nicht an sich reißen können, wäre nicht der Umschwung auf Reichsebene und damit ein Weg für die Auflösung der kommunalen Selbstverwaltung geebnet worden.
Erster Boykott jüdischer Geschäfte
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Mit ihm und der NSDAP waren nun Politiker an die Macht gekommen, deren Parteiprogramm deutlich auf Antisemitismus aufbaute. Nur drei Tage nach seiner Ernennung, am 1. Februar 1933, ließ Hitler den Reichstag auflösen und läutete damit faktisch das Ende der Weimarer Republik ein. Nach nur wenigen Wochen war aus der Demokratie nun eine Diktatur entstanden.
Mit dieser Diktatur veränderte sich auch das gesellschaftliche Klima. Antijüdische Politik wurde offen kommuniziert und ausgelebt.
"Die Nazis marschierten die Königstraße entlang, vorbei an unserer Wohnung und sangen antisemitische Lieder. Die Fenster unseres Geschäftes wurden mit Teer beschmiert, mit den Wörtern 'Jude - jüdisches Geschäft'. Nazis stellten sich vor dem Geschäft auf, machten Fotos und hinderten Kunden daran, das Geschäft zu betreten. […]"
Stadt Bocholt. Fachbereich Zentrale Verwaltung - Interne Dienste - Ordner: Jüdische Mitbürger. Harry Meier, Baltimore/USA, 26. November 1997, Meine Erinnerungen an Bocholt.
Es dauerte daher auch nicht lange, bis erste Maßnahmen gegen die jüdische Kultur und jüdische Mitbürger umgesetzt wurden. Schon am 1. April 1933 wurde unter den Schlagworten "Kauft nicht bei Juden" zum ersten Geschäftsboykott aufgerufen. Im Vorfeld hatten Deutsche Tageszeitungen behauptet, dass Juden für den Boykott deutscher Waren im Ausland verantwortlich seien. Auch das Bocholter Volksblatt verbreitete die Geschichte und in Bocholt kam es zu ersten Ausschreitungen.
Die Propaganda der NSDAP zeigte auch in Bocholt schnell Wirkung. Nationalsozialistische Gruppierungen wie die NS-Volkswohlfahrt, die NS-Frauenschaft oder die NS-HAGO (Organisation für Handwerker und Gewerbe-treibende) gründeten und etablierten sich im Stadtbild.
Gleichzeitig wurde sichtbares jüdisches Leben immer weiter verdrängt. Zum Beispiel durfte die israelitische Schule 1934 zum letzten Mal am traditionellen St. Martinszug des Vereins für Heimatpflege Bocholt e.V. teilnehmen. Immer größere Teile der Bevölkerung änderten ihren Umgang mit und ihre Sichtweise auf ihre jüdischen Nachbarn.
"Familie Seif hatte eine große Verwandtschaft. Eines Tages kam eine Familie mit kleinen Kindern zu Besuch. Als die Kinder draußen spielten, wurden sie von einem Bocholter Jungen mit Steinchen beworfen und ihnen wurde nachgerufen: ,Da wackelt so'n Judenkind mit seinen krummen Beinchen!' Das fanden die Bocholter Jungen ganz normal. Als ich das meiner Mutter erzählte, war sie sehr entsetzt."
Privatbesitz Josef Niebur. Dieser führte ein Interview mit Frau K.,
* 1926, wohnte bis 1942 Rosenstiege
"In der Nazizeit grüßten uns Nachbarn und deren Kinder, mit denen wir aufgewachsen waren, von heute auf morgen nicht mehr. Bekannte verschwanden auf einmal in Hauseingängen oder drehten sich um, um uns nicht grüßen zu müssen. Das tat sehr weh."
Stadtarchiv Bocholt, Slg-Zeitung, Zeno-Zeitung - Volksblatt für Bocholt und den Kreis Borken vom 9. Januar 1935. Wir bauen das neue Deutschland. Niederschrift über ein Gespräch mit Max Lorch (Buenos Aires/Argentinien) 1914 - 2002, während eines Besuches am 29. Juli 1991 in Bocholt.
Politisch stellte die NSDAP mit Emil Irrgang ab dem 2. Januar 1935 den ersten Nationalsozialistischen Oberbürgermeister in Bocholt. Irrgang war ein überzeugter Verfechter der NS-Ideologie und bemühte sich bereits im selben Jahr um die Stationierung österreichischen SA-Truppen. Die sogenannte Österreichische Legion war 1925 nach einem gescheiterten Putschversuch ihres Landes verwiesen worden. Auch die Geheime Staatspolizei erhielt unter Irrgang eine Dienststelle in der Stadt Bocholt.
Ausgrenzung und öffentliche Drangsalierung verschärften sich infolge der Anwesenheit der Österreichischen Legion.
"Ich fühle mich als politischer Soldat des Führers, der nichts anderes zu tun hat, als für die Idee des Nationalsozialismus zu kämpfen, der Ihnen den Nationalsozialismus vorlebt und ihn in der hiesigen Verwaltung zur restlosen Durchführung bringt."
Stadtarchiv Bocholt, Slg-Zeitungen: Zeno-Zeitung vom 3. Januar 1935
Ich erinnere mich daran, wie Frau Fehler [...] des Öfteren von österreichischen SA-Männern als 'Judensau' bezeichnet wurde, wenn sie bei Löwenstein einkaufte. Dies passierte meistens Samstags-nachmittags, denn da kamen die österreichischen SA-Männer aus dem Stadtwaldlager, auf ihrem Wagen das Transparent 'Wer beim Juden kauft, ist ein Landesverräter' gespannt, in die Stadt, und dann war immer 'etwas los', d. h., dass die 'Österreicher' Menschen drang-salierten.
Privatbesitz Josef Niebur. Niederschrift über Gespräche
am 10. August/1. Dezember 1994 mit Klara Lehmbrock
(1923 - 2010), geführt von Josef Niebur und Werner Sundermann.
1935 bis 1938
Zum Boykott der jüdischen Geschäfte und Warenhäuser rief NSDAP-Kreisleiter Heinrich Pfeffer im Januar 1935 im Bocholter Volksblatt auf:
[...] Gewiß, wir sind Antisemiten, und doch leben noch so viele Juden in Deutschland. Auch wir sind nicht deshalb gegen die Juden, weil er nun mal Jude ist, sondern wir verbitten es uns, daß wir einen Juden als Polizeipräsidenten haben sollen, daß Juden Minister werden.
Wenn eben der Führer bestimmt, daß der Kampf so geführt werden soll, dann haben wir mit unserem Willen gefälligst den Mund zu halten. Dasselbe ist es mit den [jüdischen] Warenhäusern. Wir sind Feinde des Warenhauses, und der Kampf gegen sie läuft unvermeidlich weiter. [...] Jedem muß klar sein: Wenn du in ein Warenhaus gehst, verrätst du deine Volksgenossen, den Mittelständler, der um seine Pfennige schwer zu kämpfen hat."NSDAP-Kreisleiter Heinrich Pfeffer, Wir bauen das neue Deutschland, In: Stadtarchiv Bocholt, Sig. Zeitungen, Zeno-Zeitung -
Volksblatt für Bocholt und den Kreis Borken vom 9. Januar 1935
Die Entrechtung und Ausgrenzung von Juden gipfelte am 15. September 1935 in den sogenannten "Nürnberger Rassegesetzen". Innerhalb der Gesetze wurden drei Einzelthematiken geregelt und gesetzlich festgeschrieben. Das "Reichsbürgergesetz" teilte die deutsche Bevölkerung in "Staatsbürger" und "Reichsbürger" ein. Jüdinnen und Juden waren von nun an "Staatsbürger" ohne jegliche politische Rechte. Diese hatten lediglich die "Reichsbürger" mit "deutschem oder artverwandten Blut" inne.
Mit dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wurden Beziehungsverhältnisse zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen geregelt bzw. unter Strafe gestellt. Durch eine Fülle an grotesken Gesetzen und Verordnungen wurde eine gesellschaftliche Teilnahme der jüdischen Bevölkerung unmöglich gemacht.
Das Novemberpogrom 1938
Einen Höhepunkt der antisemitischen Gewalt erlebten Jüdinnen und Juden im November 1938. Der Anlass der Ausschreitungen, die heute als Novemberpogrom bezeichnet werden, war die Ermordung des Legationssekretärs Ernst von Rath durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan. Erzürnt über die Abschiebung seiner Eltern an die deutsch-polnische Grenze zusammen mit weiteren 17.000 polnischen Jüdinnen und Juden, drang Grynszpan in die deutsche Botschaft in Paris ein und verletzte von Rath schwer.
Die Nachricht über das Attentat verbreitete sich wie ein Lauffeuer im gesamten Deutschen Reich und wurde umgehend für eine reichsweite Hetzkampagne gegen Jüdinnen und Juden genutzt.
Schlagzeilen der Zeno-Zeitung
(Überregionaler Teil des Bocholter Volksblattes) zwischen dem 7. November 1938 und dem 9. November 1938
"Jüdischer Mordschütze in der Pariser deutschen Botschaft -
Feiger Mordversuch - Werkzeug des Weltjudentums"
"Die neuerliche Provokation des Weltjudentums"
"Das feige Attentat des jüdischen Mordbuben [...]."
Angespornt und aufgestachelt durch die Propaganda wurden bereits in der Nacht des 8. November 1938 erste Pogrome als "Vergeltungsmaßnahme" durch SA und SS verübt. Nachdem von Rath im Laufe des 9. November 1938 schließlich seinen Verletzungen erlegen war, instrumentalisierte Reichspropagandaminsters Goebbels seinen Tod innerhalb einer landesweiten Hetzrede gegen das Judentum. Mit dieser Rede gab er offiziell den Startschuss für den reichsweiten Sturm auf die jüdische Bevölkerung.
In Bocholt löschten Hitlerjungen auf Anordnungen der NSDAP Ortsgruppe ab 21.00 Uhr die Straßenlaternen. Gegen 22.30 Uhr zogen daraufhin Nationalsozialisten in mehreren Gruppen durch die Innenstadt, zerstörten jüdische Geschäfte, drangen gewaltsam in jüdische Privatwohnungen ein und verwüsteten die Synagoge.
Nur sehr wenige Menschen stellten sich in dieser Nacht schützend vor ihre Nachbarn. Einer von Ihnen war der Bauunternehmer August Vallèe, der SA- und SS-Männer in der Nacht daran hinderte in das Haus von Edith Zythnik und ihrer Familie in der Königstraße 9 einzudringen.
So lautet ein Zeitzeugenbericht: "Kurz vor Mitternacht hörten wir vor dem Haus eine Gruppe wilder und alkoholisierter Männer und bereits wenige Sekunden später klirrten die Fensterscheiben. Gleich darauf wurde die Haustür aufgebrochen und der braune Mob drängte in die Wohnung. Hier randalierten sie sofort, das gesamte Porzellan wurde auf den Boden geschmissen, der danach über und über mit Scherben bedeckt war. Die Teppiche wurden zerschnitten. - Wir hatten Todesangst..."
"Ich fuhr am Morgen nach der sog. Reichskristallnacht mit dem Fahrrad kurz nach 7.00 Uhr von zu Hause aus zu meiner Lehrstelle nach Rhede. An der Westend-Kreuzung kam ich zur Villa Liebreich. Die Haustür stand offen, in der Villa waren mehrere Menschen. Im Flur oder in der Diele lag eine kostbare chinesische Vase zerschlagen auf dem Boden. Ein Wandbild war mit Messern mehrfach zerschnitten worden. Ich ging nicht weiter in die Villa. Da ich dort gehört hatte, daß in der Nacht alle Häuser der Juden demoliert worden waren, fuhr ich anschließend zur Synagoge. Als ich zur Synagoge kam, stand die Außentür offen. Die Fenster waren eingeworfen. In der Synagoge sah es wüst aus: Auf dem Boden lagen Ziegelsteine. Die Bänke waren zerstört, die Gebetbücher auf den Boden geworfen und teilweise zerrissen worden. Der Vorhang vor dem Thoraschrein war heruntergerissen worden und lag auf dem Boden, ebenso die Thorarollen. Die Treppe zur Frauensynagoge war ausgehängt. Von der Nobelstraße fuhr ich zum Südwall und kam zur gegenüber der heutigen Volkshochschule liegenden Villa Friede. Das Dach war zerstört, Stuhlbeine schauten heraus. Auch hier kam ich ungehindert ins Haus und ging in den Keller. Hier war der größte Teil von Gläsern mit eingemachtem Obst aus den Regalen geworfen und zerstört worden. Ich dachte mir: 'Was hier passiert ist, ist nicht richtig."
Niederschrift über ein Interviews mit Herrn D. (* 1922), Bocholt, am 8. Juni 1993, geführt von Josef Niebur und Werner Sundermann, In: Buch der Erinnerung, S. 99.
1939 bis 1941
Mit dem Novemberpogrom 1938 setzte eine neue Phase der NS-Judenverfolgung ein. Spätestens jetzt war Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden. Die Nacht des 9. November 1938 wird aus heutiger Betrachtungsperspektive daher auch als Ausgangspunkt für den größten Völkermord der Geschichte angesehen.
Die jüdische Bevölkerung musste selbst für die Schäden der Pogromnacht aufkommen. Die sogenannte "Judenvermögensabgabe" wurde von den NS-Machthabern auf eine Milliarde Reichsmark festgelegt. Zusätzlich wurden Jüdinnen und Juden ab dem 9. November 1938 immer öffentlicher und stärker durch Gesetze und Zwangsmaßnahmen eingeschränkt. Bis zum Ende der NS-Herrschaft sollten knapp 2.000 Gesetze zur Einschränkung gegen das jüdische Leben in Kraft treten.
Ziel der politischen Agenda war ganz offiziell die vollständige Arisierung jüdischen Besitzes sowie die vollumfängliche öffentliche Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden aus dem gesellschaftlichen, politischen und sozialen Leben der Menschen.
Immer mehr Jüdinnen und Juden entschieden sich Ende der 1930er Jahre zur Flucht aus ihrer Heimat. Allein im Jahr 1938 verließen 60 Bocholter jüdischen Glaubens die Stadt. 29 von ihnen flüchteten allein zwischen Pogromnacht und Jahresende.
Diejenigen die blieben, hatten dafür vielfältige Gründe: So wurde es gerade für Erwachsene mit der Zeit immer schwieriger, alle nötigen Unterlagen und Reisepapiere zu erhalten, da viele Länder die Migration einschränkten. Vielen Familien fehlte es nach Jahren der Entrechtung an den notwendigen finanziellen Mitteln für eine Ausreise. Einige Menschen weigerten sich aber auch schlichtweg, ihre Heimat, ihre Geburtsorte oder ihre Familie zu verlassen. Sie hofften verzweifelt auf ein Ende der Schreckensherrschaft.
Doch dieses ersehnte Ende blieb aus. Vielmehr wurden politisch nun alle Vorkehrungen getroffen, die in der sogenannten "Endlösung der Judenfrage" im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich münden sollte.
Etablierung der Judenhäuser
Mit dem Erlass des "Gesetzes über die Mietverhältnisse der Juden vom 30.04.1939", wurden Jüdinnen und Juden weitestgehend schutzlos gegenüber Wohnungskündigungen. Daraufhin richtete man erste sog. Judenhäuser in Bocholt ein. Durch den zwangsweisen Umzug aller Jüdinnen und Juden in "Judenhäuser" wurden die Menschen nun vollständig von der übrigen Bevölkerung isoliert, aus ihren angestammten Nachbarschaften entfernt und ihr Wohneigentum abgepresst. Ihre Wohnungen wurden daraufhin "arischen" Familien zur Verfügung gestellt.
"Nach meiner Erinnerung mußten die noch in Bocholt wohnenden Juden im Jahre 1939 oder 1940 in das Haus Stiftstraße 32, drei Häuser weiter als mein Elternhaus, ziehen. Insgesamt wurden in diesem großen, zweistöckigen Haus wohl 10 bis 12 Personen zusammengepfercht. [...] Mein Vater Carl Becks erhielt sofort beim Zuzug der Juden in das Haus Stiftstraße 32 von der Stadtverwaltung Bocholt den schriftlichen Auftrag, die noch in der Stadt befindlichen Juden mit den elementarsten Lebensmitteln zu beliefern.
Er durfte den Juden nur Rationen verkaufen, die wesentlich kleiner als die der sonstigen Bevölkerung waren. Vom Verkauf von Sonderrationen sowie Tabakwaren, Kaffee und Alkohol waren die Juden ausgeschlossen. Trotzdem bekamen sie auch diese von meinem Vater. Die Juden kamen dazu abends oder nachts übers Feld zu ihm, so erhielt z. B. Herr Hochheimer Zigaretten. Sie durften nur zu bestimmten Zeiten - täglich von 13.00 Uhr bis 14.00 Uhr sowie von 17.00 Uhr bis 18.00 Uhr - bei uns einkaufen. Während dieser Zeit durften keine anderen Kunden im Geschäft anwesend sein. [...]"
Privatbesitz Josef Niebur. Niederschrift über ein Interview mit Frau Inge Becks (* 1926), Bocholt, am 10. Dezember 1993, geführt durch Werner Sundermann und Josef Niebur
"Judenhäuser" als Ausgangspunkt für Deportationen
Neben der Verdrängung der Juden aus ihren angestammten Wohnumfeldern spielten bei der Etablierung der "Judenhäuser" auch Kontrolle und Überwachung eine wichtige Rolle. Doch die reine Zusammenziehung und die damit einhergehende Schikane von Jüdinnen und Juden reichte den NS-Machthabern nicht mehr aus. Sie strebten vielmehr eine vollständige "Entfernung" aller europäischen Juden aus dem Deutschen Machtbereich an.
Hierfür wurden nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen Ausweitung des deutschen Machtbereiches vor allem in Osteuropa Arbeits- und Konzentrationslager sowie Ghettos eingerichtet. Die Lager wie auch die Ghettos waren vollständige, von der übrigen Außenwelt abgeschottete Gebiete, in denen Jüdinnen und Juden unter unmenschlichen Bedingungen ausgebeutet, misshandelt und ermordet wurden.
Die Deportationen in das Ghetto Riga war für die Betroffenen ein weiterer Schritt in eine ungewisse Zukunft. Angst und Ungewissheit begleiteten die Opfer. Erste Züge fuhren im Oktober 1941 aus dem Deutschen Reich in die Ghettos und Vernichtungslager Osteuropas. Zuvor wurden die Menschen an zentralen Sammelstellen konzentriert. In Bocholt starteten die Busse und Lastwagen am frühen Morgen des 10. Dezember 1941 zur gewaltsamen Abholung von 26 Jüdinnen und Juden.
Ich fuhr, wie an fast jedem Morgen, durch den Niederbruch. Dabei fiel mir an diesem kalten Dezembermorgen sofort eine Gruppe Männer auf, die vor dem Haus der Familie Metzger stand. Die Männer hatten Abzeichen am Arm. Als ich näher kam, sah ich, daß sie Metzgers aus dem Haus holten.
Dabei wurden Metzgers geschlagen; die Frauen weinten. In den Gesichtern der Juden stand Angst, sie sträubten sich. Doch die Männer schrien sie an. [...] Die Juden mußten in den Bus einsteigen."
Privatbesitz Josef Niebur. Niederschrift über ein Interview mit Luzia Sundermann (geb. Branse, 1901-1993), Bocholt, geführt durch deren Sohn Werner Sundermann und Josef Niebur am 2. Dezember 1987
"Eines Tages - es kann im Dezember 1941 gewesen sein - sah ich, während ich Kunden bediente, wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine größere Menschengruppe in ärmlicher Kleidung vorbeilief, alle trugen Koffer.
Die Gruppe ging um das Polizeigebäude herum auf den Königsmühlenweg. Kurze Zeit später sah ich von dort einen Bus und einen LKW mit offener Ladefläche nach rechts, Richtung Rhede, fahren. Die Menschen, die ich gerade gesehen hatte, waren offensichtlich in den Bus eingestiegen. [...]"
Niederschrift über ein Interview mit Ernst (* 1921) und
Gertrud (* 1919) Deutmeyer, Rhede, vom 9. Dezember 1989,
geführt von Josef Niebur und Werner Sundermann.
Auszug aus der Stadtchronik vom 10. Dezember 1941
"Auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei wurden 26 Juden* aus Bocholt nach Riga deportiert.
Der Abtransport erfolgte am [...] Tage, vormittags, durch einen von der Polizeiverwaltung in Bocholt zur Verfügung gestellten Omnibus. Das Gepäck wurde durch einen Anhänger eines Lastkraftwagens nach Münster transportiert. Die Kosten übernahm die Geheime Staatspolizei.
Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher usw., Wertsachen jeder Art (Gold, Silber, Platin, mit Ausnahme des Eheringes) durften nicht mitgenommen werden. Es war den deportierten Juden ferner anheim gestellt, Handwerkszeug (Spaten, Hacken, Schuppen usw.) mitzunehmen. Die Mehrzahl der Juden hat diese Werkzeuge auch mitgenommen.
Fahrräder, Ferngläser, Schreibmaschinen, Fotoapparate usw., über die sich die Geh. Staatspolizei das Verfügungsrecht vorbehalten hat, wurden bei der Ortspolizeibehörde vorläufig sichergestellt. Zwischen 7.00 Uhr und etwa 8.30 Uhr fuhr der von der Ortspolizeibehörde zur Verfügung gestellte Bus an den Häusern vor, in denen die Juden wohnten."
* Ursprünglich sollten am 10. Dezember 1941 27 Bocholter Juden nach Münster deportiert werden. Amalie Markus versuchte sich jedoch am 9. Dezember 1941 angesichts der angekündigten Deportation, durch das Trinken von Essigessenz das Leben zu nehmen. Sie verstarb an den Folgen ihres Selbstmordversuchs am 16. Dezember 1941 im Rheder Krankenhaus.