Abdulkadir Kis
Serie: Wir im IR
"Das war die Hölle", "Ich kann nicht mal mit den Leuten sprechen", "ich will zurück"... das waren die ersten Reaktionen des jungen 14-jährigen Abdulkadir Kis, als er 1973 nach Deutschland und Bocholt kam. Wir stellen den stellvertretenden Vorsitzenden des Integrationsrates der Stadt Bocholt in unserer Reihe "Wir im IR" vor.
"Die Sprache war zu Beginn mein größtes Problem. In der Türkei war ich ein lebhaftter, aktiver Junge, in Deutschland musste ich dann feststellen, dass ich nicht mal mit den Leuten sprechen konnte", berichtet Kis von den Anfängen in Deutschland und in Bocholt. Nach zwei Monaten im neuen Land habe er nur noch zurückgewollt. "Das Schulamt hat auch schwarz für meine Schullaufbahn gesehen", erinnert sich Kis.
Arbeitskollege und Sport helfen
"Erst als ein Arbeitskollege meines Vaters bei Flender mit mir zum Fußball genommen hat, wurde es besser", weiß Kis. Als Trainer beim 1. FC Bocholt nahm dieser Kis mit zum Fußballtraining und in der Jugendmannschaft knüpfte Kis dann erste Bekanntschaften. Auch mit der Sprache ging es dank der Vorbereitungsklasse immer besser. "Ab der neunten Klasse konnte ich am normalen Unterricht teilnehmen und habe dann auch meinen Abschluss gemacht", sagt Kis.
Selber lernen und weitergeben
Bei der Firma Olbrich begann er 1977 eine Ausbildung als Maschinenschlosser, die er nach zweieinhalb Jahren abschloss. Es folgten Fachabitur und das Studium zum Konstrukteur im Maschinenbau, das er als Diplom-Ingenieur abschloss. Seit 1984 ist der Familienmensch, so wie er sich selber bezeichnet, bei Olbrich im bereich der Konstruktion, seit 1985 als Teamleter der technischen IT eingesetzt. "Lernen hat mir immer Spaß gemacht und ich freue mich immer wieder auf neue Herausforderungen. Selber lernen und das dann weitergebeten, das ist mein Motto".
Mit einem deutlichen Ja beantwortete Kis die Frage, ob er und seine Familie sich in Bocholt integriert fühlt. "Das gilt für die gesamt Familie", sagt Kis. Mit seiner Frau Eda Kis hat er zwei Töchter. "Unsere Kinder können beide vier Sprachen, deutsch, englisch, französisch und türkisch", berichtet er nicht ohne Stolz. Yasemin Kis wohnt und arbeitet in Stuttgart bei einer Gewerkschaft, Dilara ist Geschichts- und Französisch-Lehrerin und wir im September in Hamburg heiraten.
"Das bringt nichts"
Neben der Sprache ist für ihn die Deutschlandorientierung wichtig, um sich als Ausländer, Flüchtling oder Migrant in Deutschland zu integrieren. "Wir müssen uns mit Themen vor Ort befassen und nicht Probleme aus der Ursprungsheimat nach hierhin bringen, das bringt nichts."
Ein viel diskutiertes Thema, das Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Bürger, sei ebenfalls ein wichtiger Punkt auf dem Wege zur Integration. "Ich bin der Meinung, dass wir den Nicht-EU-Bürgern, die hier leben, mit diesem Wahlrecht das Gefühl geben können, dass sie zu uns gehören", betont Kis. "Ich bin ein deutscher Moslem, ich bin Bocholter und stehe hier voll im Leben", betont Kis weiter. "Das möchte ich von beiden Seiten hören".
Wenn es um funktionierende Integration gehe, sei die Elternunterstützung der Kinder auch im schulischen Bereich sehr wichtig. "Wir brauchen mehr Elternabende und die Eltern unserer ausländischen Schülerinnen und Schüler müssen diese auch besuchen", sagt Kis. "Wie sollen die Eltern sonst mitbekommen, wo das Kind in der Schule Probleme hat", weiß Kis. Aufgrund der zur Schulzeit seiner Kinder immer wieder auftretenden Probleme habe er zuerst eine Elterninitiative und anschließend den Türkischen Elternverein gegründet. "Wir haben uns da gegenseitig geholfen und viel bewegt, viel voneinander gelernt", sagt er voller Stolz.
Nicht abkapseln
"Eine gute Nachbarschaft ist auch wichtig, wenn es um Integration geht", ist sich Kis sicher. "Wer offen ist, sich nicht im eigenen Kreis abkapselt, der kann auch offen Probleme ansprechen und diese lösen", spricht Kis aus eigener Erfahrung. Zur Arbeit im Ausländerbeirat hat ihn seinterzeit auch seine Arbeit im Elternverein gezogen, den er gegründet und 20 Jahre als Vorsitzender geführt hat. Deshalb engagiert er sich auch im Bereich Deutsch-Türkischer Dialog vor Ort und gründete im Jahre 1993 mit dem damaligen Geschäftsführer der Europa-Union Bocholt, Dr. Peter Leibenguth-Nordmann die Deutsch-Türkische Gesellschaft Bocholt.
"Wir waren angesichts der Vorkommnisse in Rostock, Hoyerswerde und Mölln erschrocken und tief bsorgt. Deshalb wollten wir vor Ort eine gemischte Gruppe finden, die sich für Dialog und Verständigung einsetzt, mit Kultur und Musik die Menschen näher bringt und die sich auch lokal in der Politik wiederfindet", erinnert sich Kis. er freue sich als DTG-Vorsitzender, dass der Verein in diesem Jahr sein 25jähriges Jubiläum feiert.
Während seines Engagements im Elternverein und in der DTG-Bocholt interessierte ihn auch die lokale Integrationspolitik im seinerzeitigen Ausländerbeirat. Diesen hatte die SPD 1993 beantragt. Er sammelte im Jahre 1994 mit einigen Freunden Unterschriften, damit der Ausländerbeirat in Bocholt nicht ernannt, sondern frei gewählt wird. "Dafür haben wir entsprechend der Gemeindeordnung Unterschriften gesammelt und am 21.12.1994 den Antrag gestellt. Bei den Wahlen am 26. März 1995 wurde der erste Ausländerbeirat in Bocholt frei gewählt.
Kommunikation hapert
"Das Verhältnis Rat und Ausländerbeirat war zu Beginn alles andere als gut, vor allem bei der Kommunikation haperte es extrem", erinnert sich Kis an die Anfänge der Integrationsarbeit.
Deshalb setzte er sich mit seiner Liste "Bocholter Liste" dafür ein, dass in Bocholt statt eines Ausländerbeirats ein Integrationsrat gewählt wird. Dies habe den Vorteil, dass 2/3 der Mitglieder von den Migrantinnen und Migranten direkt gewählt und 1/3 der Mitglieder von der Stadtverordnetenversammlung benannt werden. Dadurch sei grundsätzlich die Verzahnung mit dem Rat hergestellt. Durch Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der Stadt Bocholt wurde am 4.11.2009 entschieden, in Bocholt einen Integrationsrat zu wählen. Im Jahr 2010 wurde dann der erste Integrationsrat gewählt. Abdulkadir Kis wurde als Vorsitzender gewählt und leitete das Gremium bis zu den Wahlen im Jahre 2014.
Professionelle Integrationsarbeit
Kis hat noch einiges was er mit seiner Arbeit im Integrationsrat erreichen möchte. Das Thema Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe geworden. Allein durch ehrenamtlichen Einsatz ist diese Aufgabe nicht zu bewältigen. "Wir haben als DTG-Bocholt bei der Stadt Bocholt die Stelle eines Integrationsbeauftragten beantragt, damit in unserer Stadt die Integrationsarbeit professionell angegangen werden kann. Mit Jochen Methling wurde 2012 der erste Integrationsbeauftragte bie der Stadtverwaltung bestellt. Gemeinsam mit Christiana Kamps würden nunmehr zwei hauptamtliche Mitarbeiter professionell in diesem Bereich arbeiten.
Vier weitere Punkte brennen ihm noch auf den Nägeln:
- Geschichte der Mitgration aufarbeiten und in einem Buch zusammenfassen
- Erstellung eines Integrationskonzeptes mit Monitoring (Defizite, Probleme aufzeigen, Verbesserungsmöglichkeiten vorstellen)
- Sprachbereich: "Im Bereich der Sprache plädiere ich für herkunftssprachlichen Unterricht in den Schulen. Die Kinder sollen mit ihren Großeltern, die sich ja häufig noch im Herkunftsland befinden, auch sprechen können", zeigt sich Kis wieder als Familienmensch.
- Begegnungsstätte - Als interkulturellen Treffpunkt wünscht sich Kis eine Begegnungsstätte. "Ob im Kubaai-Gelände oder im künftigen LernWerk, wir brauchen einen interkulturellen Treffpunkt", sagt Kis. Gerade im Kulturbereich müsse mehr passieren. "Die Migranten kommen, wenn man sie anspricht", ist er sich sicher.
Seit 1997 gibt es, und das führt er als Beispiel an, das Kinder- und Familienfest am Aasee. Es wurde in den Anfängen von der DTG Bocholt organisiert. Als damaliger Vorsitzender des Integrationsrates hatte er beantragt, dass diese Veranstaltung gemeinsam mit anderen Vereinen und Gesellschaften organisiert wird. Es wurden verschiedene Lösungen überlegt und zum Schluss entschieden, es in Zusammenarbeit mit dem LWL-Textilmuseum jährlich am 1. Mai zu veranstalten. Das LWL-Textilmuseum stellt seither die Infrastruktur, die Vereine, Verbände und Einrichtungen präsentieren ihre Angebote. Das Konzept ist von den Bocholterinnen und Bocholtern sehr gut angenommen worden. Jedes Jahr am 1. Mai kommen tausende Besucher zum Fest und feiern zusammen.
Integrationsrat akzeptiert
Den IR sieht er sowohl bei den Migranten als auch bei den Bocholterinnen und Bocholtern als akzeptiert an. "Die Wahlbeteiligung bei den jeweiligen Wahlen ist natürlich schwach", gibt er zu. Die Vereine seien aber bekannt und Kommunikation finde auf allen Ebenen statt. "Die Migrantinnen und Migranten kommen mit ihren Problemen zu uns; was die Wahlbeteiligung anbelangt, da müssen sich alle Listen, die sich zur Wahl stellen, noch mehr einsetzen", sagt Kis.
Im Gegensatz zur Akzeptanz des IR in der Bevölkerung fehlt Kis die vollständige Verzahnung der Arbeit mit dem Rat. "Da kann noch einiges mehr gemacht werden", sagt Kis. Vor allem bei Themen, die das Thema Integration betreffen, sollte der IR mehr gefragt werden. "Da wünsche ich mir, dass die Parteien mehr auf den IR zugehen", sagt Kis. Insgesamt sei die Zusammenarbeit besser als zu Zeiten des Ausländerbeirates, aber "bringt eure Themen in den IR, gemeinsam können wir mehr tun und erreichen", ist sich Kis sicher. Mit der Verwaltung gebe es dagegen keinerlei Probleme. "Die Bereitschaft ist da, Migrationstehmen werden ernst genommen und die Öffentlichkeitsarbeit der Verwaltung zu dem Thema ist sehr gut", lobt Kis.
Interreligiöser Dialog
Kis, der selber der Ditib nahesteht, wünscht sich für die restliche Wahlperiode, dass es dem Integrationsrat gelingt, den interreligiösen Dialog weiter voranzubringen. "Die Kirchen und Moscheegemeinden sollten zusammenarbeiten, sich in sozialen Bereichen, gerade was das Thema Pflege anbelangt, austauschen," sagt Kis. Dabei sollten sich beide Seiten gegenseitig einladen. Hier sei auch der Integrationsbeauftragte gefragt. Weiter wünschte sich Kis, dass dem IR mehr Verantwortung übergeben wird und die Integrationsarbeit mit einem größeren Budget unterstützt wird. "Wichtig ist mir auch das von uns geforderte Integrationskonzept; das wollen wir anstoßen und voran bringen", sagt Kis. Dabei gehe es nicht nur um Flüchtlinge.