Foto des Monats - Juni 2022
Gaststätte "Zum Neutor" um 1910
Was war das eigentlich für ein Gebäude gegenüber der neuen Feuerwache an der Dingdener Straße, das zwei Jahre nach einem Dachstuhlbrand 2019 abgebrochen wurde? "… da war ich jüngst zu Gaste", wusste vor über 60 Jahren der frühere Zeitungsredakteur Josef Stanik darüber zu berichten. Er blickte noch weiter in die Vergangenheit zurück, als der Wirt Bernhard Klein-Wiele "zum vergnüglichen und fröhlichen Verweilen" in sein Gasthaus "Zum Neutor" einlud. Daran erinnert jetzt das Bocholter Stadtarchiv.
Es war der Kaufmann Heinrich Gerbaulet, der dieses Haus im Ellerings Kamp an der Chaussee von Bocholt nach Dingden erbaute und am 21. Februar 1899 die Erlaubnis zum Betrieb einer Gast- und Schenkwirtschaft erhielt.
Schon zwei Jahre später übernahm Johann Schwinges aus Duisburg den Gasthof, den er Anfang 1904 aus gesundheitlichen Gründen an Karl Stuwe übergab. "Stuwe steht nicht in bestem Rufe, er und seine Frau neigen zum Trunke", urteilte seinerzeit Polizeiinspektor Wilhelm Korn über den neuen Inhaber. Der Beamte argwöhnte, dass der mittellose Stuwe "als Wirt gewissermaßen der Strohmann der hiesigen Sozialdemokraten sein" werde. Die Gelder für das Lokal brächten die Sozialdemokraten zusammen, und Stuwe sei dann deren Wirt, konstatierte Korn.
Erlaubnisschein im Juni 1908
1908 bemühte sich der Formermeister Magnus Fladung erfolglos um die Wirtschaftskonzession. Das SPD-Mitglied war gleichzeitig Mieter der Glückauf-Brauerei AG in Gelsenkirchen. Polizeiinspektor Korn befürwortete stattdessen das Gesuch des Fuhrunternehmers Bernhard Klein-Wiele, von dem er mit Bestimmtheit annahm, dass dieser seine Wirtschaft nicht den Sozialdemokraten als Versammlungsstätte überlassen würde. Klein-Wiele war zuvor mehrfach mit Anträgen zum Gaststättenbetrieb in seinem eigenen, in der Nähe liegenden Haus gescheitert.
Am 9. Juni 1908 erhielt er den Erlaubnisschein zur Führung der Gaststätte "Zum Neutor", die er sodann renovierte und am 17. August 1908 mit einem großen Konzert eröffnete. Zum Haus gehörten damals eine Gartenwirtschaft und eine Kolonialwaren-Handlung. Wie auf dem Bild zu sehen, platzierten sich in jener Zeit vermutlich Familienangehörige und Nachbarn vor dem Gasthaus und stellten sich dem Fotografen. Auffällig ist ebenso der hohe Baumbestand längs der Chaussee.
Nach neun Jahrzehnten mit vielfach wechselnden Inhabern gab man den Gasthausbetrieb an der Dingdener Straße schließlich auf. In Folge eines Feuerschadens vom Dezember 2017 wurde das Gebäude jüngst durch ein modernes Mehrfamilienhaus ersetzt.